kebo 11
Donnerstag, 16. Januar 2003

1. Halbwertszeiten

"Hypertext - Hands On![1] Der Mitarbeiter der Informatiker-Bibliothek murmelte »Das ist ja Steinzeit«, als er den bestellten Titel aus dem Archiv holen sollte. Dabei war das Buch erst sechs Jahre zuvor erschienen. Aber was heißt >erst< ? Michael Joyce, angeblich der Autor des ersten literarischen Hypertextes, wurde 1991 in der New York Book Reviews als »Granddaddy of Hyperfiction« bezeichnet [2]. Zu dieser Zeit war sein Werk vier Jahre alt. Daß man in Zeiten der weltweiten Computervernetzung so schnell Großvater werden kann, hat auch Joyce nicht gedacht, der nicht recht weiß, ob man ihm einen Ehrentitel geben wollte oder ob er damit seine Verabschiedung schon hinter sich hat.[3] Nicht anders wird er sich gefühlt haben, als er von einer deutschen Zeitung anläßlich des zehnten Geburtstages seiner Hyperfiction der »Homer der Hypertexte« genannt wurde.[4] [...]Bei solchen Halbwertszeiten gerät man, wenn man sich über einen längeren Zeitraum als Literaturwissenschaftler mit der Hypertextidee und mit den programmierten Hypertexten beschäftigt, schnell zwischen die Fronten. Während von der einen Seite geäußert wird, man wolle so trendy wie möglich sein und gebe sich einem von den Medien erzeugten Sog hin, um zusammen mit seinem Fach den Anschluß an die Zukunft nicht zu verpassen, so wird man von der anderen Seite, auf der man sich immer mit den allerneusten technologischen Entwicklungen vertraut macht und sie sogar selber noch vorantreibt, im besten Falle belächelt. Für die einen >hypermodern< und damit übermäßig fortschrittssüchtig, für die anderen >steinzeitlich< und damit hoffnungslos hinter dem State of the Art zurück, bewegt man sich in einem Niemandsland, das keiner gerne betritt."

1)Shneidermann/Kersley (1989): Hypertext - Hands On. 2)Coover (1991): hypertext fiction, S.66 3)Vgl. Joyce (1997): Ten Years >Afternoon<, S.1 4) die tageszeitung (Hamburg), Sonnabend/Sonntag 4./5. Januar 1997, S.32

[Porombka, Stefan: Hypertext. Zur Kritik eines digitalen Mythos. München: Fink, 2001:11-12]

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